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von Maren Ade
Note: 7.5
Toni Erdmann ist ein ganz außergewöhnlicher Film. Handelt es sich vielleicht um eine Komödie? Um einen dramatischen Film? Um die Geschichte einer zarten und zugleich komplexen Vater-Tochter-Beziehung? Um eine tiefgründige Gesellschaftsuntersuchung, die uns zeigt, wie der Kapitalismus unser Leben endgültig übernommen zu haben scheint? Wahrscheinlich jedes dieser Elemente.
Ein Vater, eine Tochter
Peter Simonischek und Sandra Hüller. Zwei großartige Schauspieler:innen, die in den letzten Tagen auf die eine oder andere Weise Schlagzeilen gemacht haben. Er ist zu früh verstorben, sie wurde bei den Filmfestspielen von Cannes gefeiert. Die beiden Künstler:innen sind nach einer bereits langen und lobenswerten Karriere dank des Spielfilms Toni Erdmann, den die junge deutsche Regisseurin Maren Ade 2016 inszenierte und der im Wettbewerb der 69. Filmfestspiele von Cannes gezeigt wurde (wo er mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet wurde), endgültig weltberühmt geworden.
Toni Erdmann ist in der Tat ein ungewöhnlicher Film. Handelt es sich vielleicht um eine Komödie? Um einen dramatischen Film? Um die Geschichte einer zarten und zugleich komplexen Vater-Tochter-Beziehung? Um eine tiefgründige Gesellschaftsuntersuchung, die uns zeigt, wie der Kapitalismus unser Leben endgültig übernommen zu haben scheint? Wahrscheinlich jedes dieser Elemente. Viel komplexer, vielschichtiger und symbolträchtiger, als es auf den ersten Blick scheint, war dieser wichtige Spielfilm von Maren Ade zu seiner Zeit eine Sensation, indem er fast einzigartige Charaktere zum Leben erweckte, die durch hervorragende schauspielerische Leistungen noch aufgewertet wurden.
Und genau diese sorgfältige und komplexe Arbeit mit den Schauspieler:innen ist die Grundlage von Toni Erdmann. Hier wird nämlich die Geschichte von Winfried (Simonischek) inszeniert, einem pensionierten Mann, der allein mit seinem kleinen Hund lebt und der in seiner Freizeit Klavierunterricht gibt und gerne alle möglichen Scherze organisiert, da er eine Leidenschaft für Verkleidungen hat. Eines Tages beschließt der Mann, seine Tochter Ines (Hüller) zu besuchen, die in Bukarest lebt, als Beraterin für ein großes multinationales Unternehmen arbeitet und davon träumt, eines Tages nach Shanghai versetzt zu werden. Der Mann ist der festen Überzeugung, dass seine Tochter, die wegen ihrer Arbeit keine Freizeit mehr hat, ihren Sinn für Humor verloren hat. Deshalb erfindet er, sobald er in Bukarest ist, die seltsame Figur des Toni Erdmann, der ein Gebiss und eine Perücke trägt und sich als Business-Coach ausgibt, um Ines ständig in Verlegenheit zu bringen.
„Bist du eigentlich ein Mensch?“, fragt Winfried seine Tochter in dem Moment, in dem er ihr Leben betrachtet hat. Und genau das ist es, was in Toni Erdmann hauptsächlich inszeniert wird: Der Tod der Menschlichkeit neben einem herrschenden Kapitalismus, der die Menschen schon lange nicht mehr berücksichtigt. Derselbe Kapitalismus, gegen den Winfrieds Generation immer gewettert hat. Derselbe Kapitalismus, der es vermag, die Bedeutung wahrer Werte vergessen zu machen, der dafür sorgt, dass Menschen skrupellos abgetan werden und dass Aussehen und Schein ständig eine zentrale Rolle spielen.
In diesem Sinne steht Toni Erdmann in starkem Kontrast zu der Glamourwelt, in der seine Tochter lebt, und erfindet eine Identität, die in der Lage ist, die Identität und jede Gewissheit der anderen zu untergraben. Alles ist paradox, alles ist Illusion. Und auch wenn Winfried selbst nicht behaupten kann, die richtige Lösung gefunden zu haben, um endlich glücklich zu sein, kann er Ines auf seine Weise helfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, indem er die Figur des Toni Erdmann erfindet oder sich sogar in eine Art Totem, ganz mit Fell bedeckt, verwandelt. Und so wird Ines schließlich selbst erkennen, dass es wert ist, ihrem Vater einen Platz in ihrem Leben zu bieten (die Szene, in der sie scherzhaft das Gebiss des Mannes trägt, ist besonders zart und berührend).
Ein ganz komplexer Film, Toni Erdmann. Ein Film, der alles auf einen starken Realismus, der durch eine lange (aber notwendige) Laufzeit und das fast völlige Fehlen von Musik (mit Ausnahme der rein diegetischen Musik natürlich) noch verstärkt wird, setzt, indem er gekonnt mit Komik, Illusion und Verkleidung spielt. Ein Film, der praktisch jeden von uns anspricht, in einer Welt, in der jeder genau zu wissen scheint, was die richtige Art zu leben und mit anderen umzugehen ist.
Titel: Toni Erdmann
Regie: Maren Ade
Land/Jahr: Deutschland, Österreich, Monaco, Rumänien, Frankreich, Schweiz / 2016
Laufzeit: 90’
Genere: Filmkomödie, Drama
Cast: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Ingrid Bisu, Hadewych Minis, Lucy Russell, Victoria Cocias, Alexandro Papadopol, Victoria Malektorovych, Ingrid Burkhard, Jürg Löw, Ruth Reinecke, Nicolas Wackerbarth, Mihai Manolache, Radu Bânzaru, Niels Bormann
Buch: Maren Ade
Kamera: Patrick Orth
Produktion: Komplizen Film, Coop99 Filmproduktion