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Die Filme Die Schreckentage von Wien von Rudi Mayer und Oktober von Sergei Eisenstein behandeln zwei ähnliche Themen, scheinen aber gleichzeitig in ihrem Regieansatz völlig gegensätzlich zu sein. Während in Mayers Film die Julirevolte vor allem zeigt, wie ein Protest große Schäden in der Stadt anrichtet, stehen in Eisensteins Film die Bedürfnisse der Bürger im Mittelpunkt.
Zwei Filme, zwei Nationen, zwei Schicksale
1927 war ein besonders wichtiges Jahr für das proletarische Kino, nicht nur in Österreich, sondern weltweit. In diesen Jahren wurden zwei wichtige Filme gedreht, die uns zeigen, wie die Menschen auf bestimmte Ereignisse reagieren, wenn ihre Rechte nicht richtig anerkannt werden. Während in Österreich der Kameramann Rudi Mayer den schrecklichen Wiener Justizpalastbrand (am 15. Juli 1927, dem Tag der Julirevolte) mit dem Dokumentarfilm Die Schreckenstage von WIendokumentierte, wurde Sergei Eisenstein in Russland beauftragt, einen Film zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution zu drehen. So entstand der Film Oktober.
Es ist interessant zu bemerken, wie zwei Filme, die ähnliche Ereignisse zeigen, ganz unterschiedliche Ansätze aufweisen und – absichtlich oder unabsichtlich – die politischen Trends der Zeit widerspiegeln und in gewisser Weise sogar wichtige historische Folgen antizipieren können. Sehen wir uns konkret an, wie.
Am 30. Januar 1927 wurden in Schattendorf (Burgenland) ein 40-jähriger Arbeiter und ein sechsjähriges Kind bei einer Demonstration der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gegen eine rechtsgerichtete Allianz aus Industriellen und der katholischen Kirche von der Polizei getötet. Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen und dem Tod der beiden Opfer wurden drei Mitglieder der nationalistischen Gruppe vor Gericht gestellt und im Juli in Untersuchungshaft genommen. Am 14. Juli wurden die drei für unschuldig erklärt, und dieses Urteil sorgte für einen großen Skandal.
Am folgenden Tag – dem 15. Juli – stellte die Leitung der städtischen Elektrizitätswerke den Strom für die Straßenbahnen in Wien ab, so dass der Stadtverkehr unterbrochen wurde. In der Zwischenzeit drängten sich Tausende von Menschen auf dem Ring und gingen zum Justizpalast, wo sie durch die Fenster einbrachen und ein Feuer legten. Als der Kameramann Rudi Mayer am Ort des Geschehens eintraf, war das Feuer bereits gelegt worden, und er versuchte, mit einer gewissen Distanz das Geschehen zu dokumentieren und dabei eine gewisse Objektivität zu bewahren. In seinem Film wird die Julirevolte daher fast schematisch gezeigt. Zunächst richtet die Kamera ihre ganze Aufmerksamkeit auf das brennende Gebäude und erst später auf die Menschenmenge, die verängstigt durch die Straßen Wiens rennt und versucht, sich zu retten. Im letzten Teil des Films wird jedoch die Trauerrede der Behörden, die den Menschen gedenkt, die bei dieser Gelegenheit gestorben sind, gezeigt.
Während der Julirevolte starben an diesem dramatischen Tag vierundachtzig Demonstranten und fünf Polizisten, etwa tausend Menschen wurden verletzt. Dies wird in Mayers Film jedoch nie erwähnt. Totale und distanzierte Einstellungen lassen erahnen, was passiert ist, gehen aber nie ins Detail. Laut Aussage des Schriftstellers Elias Canetti (der die Revolte hautnah miterlebte) regnete es kurz vor dem Brand Abertausende von Papierblättern aus den Fenstern des Justizpalastes. Als Rauch und Flammen aus den Fenstern auftauchten, verschlimmerte sich die Situation.
Die Polizei begann, auf die Menschen zu schießen, sogar auf Personen, die gar nicht an den Protesten teilgenommen hatten. Die Menschen rannten in Panik, und der Boden war voller Verletzter und Toter. Wer anhielt, um einem Verletzten zu helfen, riskierte zu sterben. In Die Schreckenstage von Wien, wo es keine Großaufnahmen oder Nahaufnahmen gibt, wird nichts davon gezeigt.
Ganz anders hingegen ist der Ansatz, den Eisenstein bei den Dreharbeiten zu Oktober wählte. Hier geben direkte Aufnahmen und Archivmaterial die Idee der Oktoberrevolution vollständig wieder und stellen vor allem immer den Menschen in den Vordergrund. Der Kampf der Arbeiter, die dringende Notwendigkeit, dass alle Rechte endlich anerkannt wurden, sind hier unmittelbar erkennbar.
Die beiden Filme – Die Schreckentage von Wien und October – behandeln also zwei ähnliche Themen, wirken auf uns aber gleichzeitig völlig gegensätzlich. Während nämlich in Mayers Film die Julirevolte im Wesentlichen zeigt, wie ein Protest große Schäden in der Stadt anrichtet, stehen in Eisensteins Film die Bedürfnisse der Bürger im Mittelpunkt. Und das ist auch im Hinblick auf die politische Situation in beiden Ländern von besonderer Bedeutung.
In Österreich war der Bundeskanzler – Monsignore Ignaz Seipel -, der schon immer antisemitisch eingestellt war, nach der Julirevolte noch fester davon überzeugt, dass ein Gleichgewicht nicht durch eine Allianz mit der Sozialdemokratischen Partei erreicht werden konnte, und stellte sich immer offener auf die Seite Adolf Hitlers. In Russland hingegen war der Trend ganz anders, führte aber zu einer anderen, ebenso dramatischen Diktatur: dem Stalinismus. Kino und Politik gehen also wieder einmal Hand in Hand und erweisen sich als wichtige historische Dokumente, um die Vergangenheit und Gegenwart zweier Nationen zu erzählen. Was danach geschah, ist leider bekannt.