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von Patric Chiha
Note: 8
Das Tier im Dschungel ist ein äußerst feines Werk, in dem fast verschwommene Bilder aus vergangenen Zeiten mit der nun gedämpften, nun psychedelischen Beleuchtung und den extravaganten Kostümen der Protagonist:innen kontrastieren. Bilder und Musik treffen aufeinander und trennen sich kaum je. Auf der Berlinale 2023.
Brennendes Geheimnis
Angst. Egoismus. Das beunruhigende Gefühl, dass etwas Schreckliches auf uns wartet. Abwarten, anstatt zu handeln. Der berühmte Schriftsteller Henry James hat all dies in seiner Kurzgeschichte The Beast in the Jungle aus dem Jahr 1903 perfekt analysiert. Eine zeitlose Geschichte. Eine Geschichte, die sowohl im letzten Jahrhundert als auch vor ein paar Jahrzehnten oder sogar in der Gegenwart spielen könnte. In diesem Sinne dachte der österreichische Regisseur Patric Chiha daran, James‘ berühmte Geschichte zu verfilmen und sie zwischen den späten 1970er und frühen 2000er Jahren spielen zu lassen. So entstand der Spielfilm Das Tier im Dschungel, der auf der Berlinale 2023 – in der Sektion Panorama – seine Weltpremiere gehabt hat und auch der Eröffnungsfilm der Diagonale 2023 sein wird.
Das Tier im Dschungel ist also das Ergebnis einer Koproduktion zwischen Frankreich, Belgien und Österreich und findet in einem kleinen Nachtclub seinen idealen Schauplatz. Hier treffen sich die beiden Protagonist:innen, May (gespielt von Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier), zehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung zufällig wieder. Zunächst scheint May eine Beziehung mit ihm eingehen zu wollen. John erzählt ihr jedoch, dass er ein wichtiges Geheimnis hat und glaubt, dass er für etwas Überraschendes bestimmt ist. Um gemeinsam auf diesen großen „Durchbruch“, den das Leben für sie bereitzuhalten scheint, zu warten, treffen sich die beiden etwa fünfundzwanzig Jahre lang jeden Samstag in demselben Nachtclub. Was erwartet sie in Wirklichkeit?
Das Tier im Dschungel ist die Geschichte zweier zunächst unterschiedlicher Leben. May ist einfallsreich, extrovertiert, tanzt gern und „könnte nie allein leben“. John ist praktisch das Gegenteil von May: introvertiert, schüchtern, einsam und äußerst geheimnisvoll. Wenn May mit John zusammen ist, fühlt sie sich wie nie zuvor und kann nicht ohne ihn sein. Selbst dann, wenn die beiden den Abend verbringen, ohne zu sprechen, oder wenn die ständige Musik es schwierig macht, die Worte zu verstehen. Gleichzeitig „stiehlt“ John ihr das Leben, indem er sie von ihren Freund:innen und ihrem Freund (später Ehemann) Pierre entfernt und diese Clubnächte fast zu ihrem einzigen Lebenszweck macht. Die Garderobenfrau des Clubs (gespielt von Béatrice Dalle) ist als allwissende Erzählerin Zeugin ihrer Begegnungen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die fortschreitende Veränderung von May. Im Laufe der Jahre wird sie John immer ähnlicher, verliert an Vitalität. Und in Das Tier im Dschungel hat Patric Chiha diese fortschreitende Veränderung dank eines geschickten Musik-, Licht- und Blickspiels sehr gut wiedergegeben. Die Jahre vergehen, Schatten scheinen die Oberhand über Licht zu gewinnen, die Jugendlichen scheinen nun Techno-Musik zu bevorzugen, Geschichte schreitet voran, Mitterrand wird gewählt, AIDS tötet viele junge Menschen, die Berliner Mauer fällt und der Anschlag vom 11. September verändert alles für immer. Gleichzeitig scheint die Geschichte von May und John sich parallel, in einer zeitlosen Dimension, in einer Art Nicht-Ort zu entwickeln.
Und so wird der besagte Nachtclub – „La Bête dans la Jungle“, so heißt er – als ein weiterer Protagonist behandelt, als stiller Zuschauer einer Liebesgeschichte, die nie ihre eigene Erfüllung zu finden scheint. Das Tier im Dschungel ist also ein äußerst feines Werk, in dem die fast verschwommenen Bilder vergangener Zeiten (die in Super8 gedreht wurden und einer präzisen elliptischen Struktur folgen) gut mit dem mal gedämpften, mal psychedelischen Licht und den extravaganten Kostümen der Protagonist:innen kontrastieren. Bilder und Musik treffen aufeinander, lösen sich kaum voneinander und lassen gemeinsam einen mutigen Spielfilm entstehen, der sich vor allem durch seine ausgeprägte Persönlichkeit auszeichnet. Chiha ist es gelungen, eine zeitlose Geschichte, die gekonnt die menschliche Seele und die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen erforscht, auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Jede Rhetorik wird vermieden, die Experimentierfreude ist groß, und die Dialoge sind spärlich und wesentlich. May und John sind sicherlich zwei Protagonist:innen, die wir nicht so schnell vergessen werden.
Titel: La Bête dans la Jungle
Regie: Patric Chiha
Land/Jahr: Frankreich, Belgien, Österreich / 2023
Laufzeit: 103’
Genre: Drama, Musikfilm, Liebesfilm
Cast: Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer, Pedro Cabanas, Mara Taquin, Bachir Tlili
Buch: Patric Chiha, Axelle Ropert, Jihane Chouaib
Kamera: Céline Bozon
Produktion: Aurora Films, Frakas Productions, WILDart Film