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CARMEN

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von Anja Salomonowitz

Note: 7.5

Carmen ist eine bizarre, zärtliche und aufrichtige Liebesgeschichte, die nur wenige wirklich zu verstehen bereit sind. Film und Film im Film treffen sich in diesem kleinen und feinen Dokumentarfilm von Anja Salomonowitz und erwecken gemeinsam ein schönes und melancholisches zeitgenössisches Märchen zum Leben. Auf der Viennale 2022, Sektion Österreich real.

Wahre Liebe

Carmen Dido Martinek ist kein gewöhnlicher Mensch. Carmen könnte von vielen als ein ziemlich bizarres Mädchen angesehen werden. Niemand (oder fast niemand) kann wirklich verstehen, was sie jeden Tag erlebt. Angesichts ihrer unbestrittenen „Originalität“ wollte uns die Regisseurin Anja Salomonowitz ihre ungewöhnliche Geschichte in dem 1999 entstandenen Kurzdokumentarfilm Carmen zeigen, der auf der Viennale 2022 im Rahmen der Retrospektive Österreich real des Filmarchivs Austria erneut dem Publikum vorgestellt wurde.

Das Schikaneder-Kino im vierten Wiener Gemeindebezirk bedeutet für Carmen viel mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Sie ist tatsächlich in dieses Kino verliebt, so sehr, dass sie es fast wie eine Person, wie die einzige wahre Liebe in ihrem Leben betrachtet. Anfänglich schlich sie sich ins Kino (auch um dort zu schlafen), später ließ sie sich als Putzfrau anstellen, um so viel Zeit wie möglich dort zu verbringen. Was aber würde passieren, wenn ihr geliebtes Kino für immer schließen würde, um einem großen Supermarkt Platz zu machen?

In Carmen will Anja Salomonowitz uns also durch die einzigartige Geschichte einer jungen Frau eine Realität zeigen, die für immer verschwinden könnte. Und wenn man bedenkt, dass ihr Dokumentarfilm vor mehr als zwanzig Jahren gedreht wurde, muss man leider feststellen, dass sich die Situation – vor allem nach der Pandemie – noch weiter verschlechtert hat, da viele Kinos seither ihren Betrieb eingestellt haben. Carmen ist also eine bizarre, zärtliche und aufrichtige Liebesgeschichte, die nur wenige wirklich verstehen können. Film und Film im Film treffen sich in diesem kleinen und feinen Dokumentarfilm von Anja Salomonowitz und erwecken gemeinsam ein schönes und melancholisches zeitgenössisches Märchen zum Leben.

Die Kamera der Regisseurin (und des Kameramanns Hannes Anderwald) zeigt uns, was normalerweise an Carmens Tagen passiert. Ein einfacher und direkter Regieansatz zeigt uns die Frau, wie sie die Sitze im Kinosaal streichelt, wie sie sich darauf legt, bevor sie einschläft, wenn alle nach Hause gegangen sind, wie sie den Kinosaal aufräumt oder wie sie kurz in ihre Wohnung zurückkehrt, um schnell zu duschen. Die Protagonistin vertraut sich vor der Kamera mit einem verträumten und auch etwas naiven Blick an. Ihr Arbeitgeber – der ebenfalls von der Regisseurin interviewt wurde – hat ihre Gefühle für das Kino endlich verstanden.

Man lächelt beim Anschauen von Carmen, aber gleichzeitig fühlt man sich seiner magnetischen Protagonistin sofort nahe. Anja Salomonowitz beobachtet sie mit Zuneigung und urteilt nie über sie. Ihre Carmen ist zwar eine Frau mit einer ungewöhnlichen Leidenschaft, aber auch eine äußerst verwundbare und romantische Frau. Ihre Liebe zum Schikaneder-Kino ist eine äußerst komplizierte Liebe, die eines Tages für immer enden könnte. Und gerade wegen dieser ungewöhnlichen und prekären Situation scheint uns ihre „Liebesgeschichte“ noch wertvoller zu sein.

Titel: Carmen
Regie: Anja Salomonowitz
Land/Jahr: Österreich / 1999
Laufzeit: 23’
Genre: Dokumentarfilm
Buch: Anja Salomonowitz
Kamera: Hannes Anderwald
Produktion: Anja Salomonowitz

Info: Die Seite von Carmen auf der Webseite von Anja Salomonowitz; Die Seite von Carmen auf iMDb; Die Seite von Carmen auf der Webseite der sixpackfilm