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von Zheng Lu Xinyuan
Note: 7.5
In Jet Lag bekommen die von Zheng Lu Xinyuans Kamera gefilmten Bilder sofort eine tiefe und vielschichtige Bedeutung und entwickeln sich auf zwei (nicht allzu) unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Ebenen. Auf der Berlinale 2022.
Vergangenheit und Gegenwart überall auf der Welt
Der Jetlag ist etwas, das wir erleben, wenn wir von einem Land in ein anderes reisen und sich die Zeitzone ändert. Das ist uns allen bewusst. Allerdings kann dies auch in einem weiteren Sinne verstanden werden, nämlich dann, wenn die Sehnsucht nach einer fernen Vergangenheit und einem Heimatland, das am anderen Ende der Welt liegt, eine Art Leere, die nur schwer zu füllen ist, in uns erzeugt. Der Dokumentarfilm Jet Lag, der von der Regisseurin Zheng Lu Xinyuan inszeniert und auf der Berlinale 2022 in der Sektion Forum als Weltpremiere präsentiert wurde, macht deshalb das Konzept des Reisens – sowohl im realen als auch im metaphorischen Sinne – zu seinem Hauptprotagonisten.
Die Reise der Filmemacherin beginnt also in Graz im Jahr 2020, genau während des Ausbruchs der Covid-19-Pandemie. In diesen Tagen – und vor ihrem Rückflug nach Peking – begann Zheng Lu Xinyuan, ihre Tage zu Hause mit ihrer Freundin zu filmen. Gleichzeitig sehen wir eine weitere Reise, die die Filmemacherin mit ihrer Familie vor der Pandemie unternommen hat, um herauszufinden, was mit ihrem Urgroßvater, der in den 1940er Jahren ausgereist und nie zurückgekehrt ist, geschehen ist.
Die Ungewissheit eines unerwarteten Moments, die ständige Suche nach der Wahrheit, nach sich selbst, nach der eigenen Herkunft, werden durch kraftvolle, fast amateurhaft gefilmte Schwarz-Weiß-Bilder dargestellt. Bilder von Menschen, die durch ein Fenster beobachtet werden, das Display eines kaputten Handys, triste Hotelzimmer und bewegende Familiensituationen. Bilder, die durch die Kamera von Zheng Lu Xinyuan sofort eine tiefe und vielschichtige Bedeutung bekommen und sich auf zwei (nicht zu) unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Ebenen entwickeln.
Während des Lockdowns vertraut sich die Regisseurin ihrer Freundin an und erzählt ihre Geschichte neben der Kamera. Ihre Reisen, ihre Begegnungen mit verschiedenen Kulturen, ihre besondere Beziehung zu ihrer Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, werden auch uns langsam vertraut. Ebenso sorgt ihre sensible und aufmerksame Regie dafür, dass das Schwarz-Weiß jede Entfernung „auslöscht “ und gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart fast zu einer Einheit werden lässt. Oder besser noch, dass es eigentlich keine Trennung zwischen diesen beiden gibt. Fast so, als hätte der Dokumentarfilm selbst die Form einer Art Bewusstseinsstrom.
Die Zeit, die wir während des Lockdowns zu Hause oder in einem Hotelzimmer verbracht haben, hat uns oft die Möglichkeit gegeben, über unser Leben nachzudenken und es neu zu organisieren. Ein Moment, in dem alles auf Eis gelegt wurde. Ein Moment, in dem die Filmemacherin endlich das Bedürfnis verspürte, die Teile des Puzzles, aus denen ihr Leben besteht, zusammenzusetzen und einen kleinen, wertvollen Dokumentarfilm mit einem sehr persönlichen und innovativen Ansatz zu drehen. Wahrscheinlich werden einige Fragen nie beantwortet und einige Versäumnisse der Vergangenheit nie aufgeholt werden können. Was wir in Jet Lag auf der Leinwand sehen, ist jedoch reine Kunst und Poesie. Vergangenheit und Gegenwart treffen aufeinander und schaffen eine wunderschöne Harmonie.
Titel: Jet Lag
Regie: Zheng Lu Xinyuan
Land/Jahr: Schweiz, Österreich / 2022
Laufzeit: 111’
Genre: Dokumentarfilm
Buch: Zheng Lu Xinyuan
Kamera: Zheng Lu Xinyuan, Zoe
Produktion: Ray Matin, Shanshan Li