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von Ruth Beckermann
Note: 8
Das Zimmer ist sehr geräumig, das Sofa ist bequem, die Themen sind oft extrem heikel. Aber genau darum geht es in Mutzenbacher: Jeder kann sich mit denjenigen, die normalerweise stark verurteilt werden, identifizieren, sich selbst verwundbar fühlen und versuchen, Dynamiken, die keinesfalls einfach sind, zu verstehen. Auf der Berlinale 2022.
Je suis Josefine
Innerhalb einer höchst feinen Auswahl voller schöner Überraschungen durfte die geniale Ruth Beckermann auf der Berlinale 2022 auf keinen Fall fehlen. Im Zuge der #metoo-Bewegung hat sich die berühmte Filmemacherin mit einem einzigartigen Dokumentarfilm, der zahlreiche Debatten ausgelöst hat, zu Wort gemeldet. Es handelt sich um Mutzenbacher, der auf der Berlinale 2022 in der Sektion Encounters präsentiert wurde. Aber worum geht es dabei?
Im Jahr 1906 wurde das Buch Josefine Mutzenbacher: oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt anonym veröffentlicht. Es handelt sich um einen hocherotischen Roman, in dem die Autorin von ihren ersten Erfahrungen als Mädchen erzählt. Ruth Beckermann hat also Casting-Aufrufe für einen auf dem Buch basierenden Film organisiert. Nur Männer zwischen 16 und 99 Jahren sollten vorsprechen, und es ist keine Schauspielerfahrung erforderlich. Ein großer Raum mit einer rosafarbenen Couch in der Mitte wird der Ort des Vorsprechens sein. Jeder Teilnehmer muss eine Passage aus dem Buch vorlesen.
Ruth Beckermann ermöglicht mit Mutzenbacher also einen hochkomplexen Diskurs. Im Dialog mit den Kandidaten wird die Regisseurin ihnen am Ende der Lesung Fragen stellen, und jeder von ihnen wird – mal locker, mal peinlich berührt – die Möglichkeit haben, sich zum Thema zu äußern und von persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Wie wird die Sexualität einer jungen Frau von der heutigen Gesellschaft gesehen? Sind wir alle bereit zu urteilen oder versuchen wir im Gegenteil, uns mit der Protagonistin zu identifizieren?
Eine direkte und wesentliche Regie hat sich als die beste Lösung erwiesen, um eine Chor-Dokumentation, die auch dem Publikum viele Denkanstöße bietet, zu realisieren. Ein Dokumentarfilm, in dem Männer zu Wort kommen, in dem es überhaupt keine Frauen gibt, abgesehen natürlich von der Stimme der Regisseurin, die jedoch nie vor der Kamera auftritt.
Mutzenbacher ist also ein ironisches, äußerst intelligentes und niemals banales Werk. Ein Film, in dem die Großaufnahmen der Protagonisten einen Regieansatz offenbaren, der ihnen nahe ist, aber auch die nötige Distanz wahrt, um das Geschehen vor der Kameralinse zu beobachten. Ruth Beckermann will nicht urteilen und sorgt dafür, dass sich jeder der Kandidaten wohlfühlt. Selbst wenn sie einen Dialog mit einer anderen Person führen oder eine weibliche Rolle spielen müssen. Das Zimmer ist sehr geräumig, die Couch ist bequem, die Themen sind oft extrem heikel. Aber genau das ist das Ziel des Projekts: Jeder soll sich mit jemandem, der normalerweise stark verurteilt wird, identifizieren können, sich seinerseits verwundbar fühlen und versuchen, Dynamiken, die keinesfalls einfach sind, zu verstehen. Von der einfachen Erotik kommen wir zu einem breiteren Diskurs über Kindesmissbrauch, und sofort werden die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachtet. Ruth Beckermann hat wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihr Mutzenbacher ist sicherlich ein Dokumentarfilm, der zum Nachdenken anregen wird.
Titel: Mutzenbacher
Regie: Ruth Beckermann
Land/Jahr: Österreich / 2022
Laufzeit: 100’
Genre: Dokumentarfilm
Buch: Ruth Beckermann, Claus Philipp
Kamera: Johannes Hammel
Produktion: Ruth Beckermann Filmproduktion