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VORWÄRTS

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von Susanne Freund

Note: 7

In Vorwärts wird uns das bürgerliche Engagement neben paradoxen und manchmal leicht grotesken Situationen gezeigt. Die Regisseurin will vor allem ein universelles Fresko der Welt der Politik und der ermüdenden Wahlkämpfe zeichnen.

Auf der Suche nach verlorenen Stimmen

Seit 1945 hat die SPÖ in Österreich eine große Zahl von Anhängern gewonnen. Doch im April 1994 änderte sich einiges: Der Einzug der FPÖ und die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Ausländern ließen die Partei einige Stimmen verlieren. Diese Ära stellt somit einen echten Wendepunkt in der jüngeren österreichischen Geschichte dar und wurde von Susanne Freund im Dokumentarfilm Vorwärts (1995) treffend dokumentiert.

Der Film zeigt uns detailliert jeden Aspekt des Wahlkampfes einer immer kleiner werdenden Gruppe von Aktivisten im Bezirk Leopoldstadt. Es handelt sich um einen Dokumentarfilm, der nicht zögert, die vielen paradoxen Situationen, die entstanden sind, mit einer gewissen Distanz und Ironie zu beobachten.

Die junge Brigitte Ederer wurde kürzlich in die Leopoldstadt gewählt. Die Begeisterung ist groß. Zwischendurch ist immer wieder Zeit, eine kleine Kinderdisco zu veranstalten. Und während es am Muttertag üblich ist, allen Müttern in der Nachbarschaft Blumensträuße zu Hause zu überreichen, kann dies auch eine gute Gelegenheit sein, individuelle Parteibeiträge zu sammeln.

In Vorwärts wird uns das bürgerliche Engagement neben paradoxen und manchmal leicht grotesken Situationen gezeigt. Die Regisseurin will vor allem ein universelles Fresko der Welt der Politik und der ermüdenden Wahlkämpfe zeichnen.

Zu diesem Zweck ist die Kamera – hier von einem sehr jungen Jerzy Palacz geführt – fast unsichtbar, abgesehen von gelegentlichen Fragen der Regisseurin an die Leute. Der Zuschauer taucht völlig in das Klima vor der Wahl ein. Wahlen, die sich – zumindest bis 1994 – trotz eines knappen Sieges als die schlechtesten für die SPÖ überhaupt erweisen sollten.

Um ein Land regieren zu können, muss man jede einzelne Situation erleben. Das findet auch Susanne Freund, die aus einem stark realistischen Regieansatz die größte Besonderheit von Vorwärts macht. Und das funktioniert zweifelsohne. So zeichnet dieser kleine, aber wertvolle Dokumentarfilm ein notwendiges und erschöpfendes Fresko von Österreich – und speziell von Wien – in den 1990er Jahren.

Und so denken wir sofort an den aktuellen Inland, den preisgekrönten Dokumentarfilm der jungen Regisseurin Ulli Gladik aus dem Jahr 2019. Hier wird eine komplementäre Realität zu der des Vorwärts behandelt. Hier untersucht man die Realität hinsichtlich der der FPÖ, die erst ab den 1990er Jahren ihre ersten zahlreichen Konsense zu gewinnen begann. Ulli Gladiks Film ist dank eines umfassenden Überblicks über die gegenwärtige Gesellschaft eine unmittelbar notwendige Ergänzung zu Vorwärts. Zwei Parteien und zwei Realitäten, die viel mehr Gemeinsamkeiten haben, als es zunächst den Anschein haben mag. Ein Porträt des Österreich von gestern und heute, bei dem der rechte Hauch von Ironie ein willkommener Mehrwert ist.

Titel: Vorwärts
Regie: Susanne Freund
Land/Jahr: Österreich / 1995
Laufzeit: 80’
Genre: Dokumentarfilm
Buch: Susanne Freund
Kamera: Jerzy Palacz
Produktion: Allegro Film

Info: Die Seite von Vorwärts auf iMDb; Die Seite von Vorwärts auf der Webseite der Allegro Film