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EPICENTRO

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von Hubert Sauper

Note: 8

Epicentro, der jüngste Dokumentarfilm von Hubert Sauper, ist nicht nur ein Film über Kuba, seine Gegenwart und seine Geschichte. Aus zahlreichen Geschichten zusammengesetzt, taucht der Film in den Alltag der Bewohner ein, behandelt Themen wie den Tourismus und wie er von den Einheimischen betrachtet wird, geht auf die Momente nach dem Tod von Fidel Castro ein – und zeigt sie uns durch Archivmaterial. Ein Film, der dem Zuschauer das Gefühl gibt, ein Hauptdarsteller und nicht nur ein Beobachter zu sein.

Kubas Farben

Im Jahr 1898 explodierte das US-Schiff USS Maine in der Nähe des Hafens von Havanna. Dies wurde sofort zum Vorwand für den Ausbruch des spanisch-amerikanischen Krieges, der wiederum entscheidend für die Geschichte und Gegenwart Kubas war. Doch was sind die tausend Gesichter dieser kleinen Nation, die so viel zu erzählen hat? Was bedeutet es, durch die Straßen Havannas zu gehen, Geschichten anzuhören, sich von Geschmäckern, Düften und Anregungen leiten zu lassen? Regisseur Hubert Sauper lässt uns in seinem Dokumentarfilm Epicentro – präsentiert als Österreich-Premiere bei der Viennale 2020 – diese Erfahrung erleben und begleitet uns in eine Welt, von der nur wenige behaupten können, sie wirklich zu kennen.

Die Kamera des Regisseurs bewegt sich durch die Straßen und Gassen der Stadt, fast wie eine subjektive Einstellung. Gleichzeitig führt uns eine beruhigende Off-Stimme in eine ganz neue Welt und fordert uns auf, uns von der Magie mitreißen zu lassen. Einige Kinder spielen auf der Straße. Ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren, das seine kleinen Geschwister – die weggelaufen sind – nicht finden kann, weint und klagt, dass niemand sie liebt. Und sie gewinnt uns sofort für sich. Dann beginnt der Zauber: Auf einem riesigen weißen Tuch werden die ersten Filme von Edison, Lumière und Méliès projiziert. Die Filmgeschichte wird zum ersten Mal einer Gruppe von Kindern vorgestellt. Die Kamera verweilt auf ihren begeisterten, fast hypnotisierten Gesichtern. Es erinnert fast an Godfrey Reggios spannenden und bewegenden Evidence (1995). Dann, nach ein paar Minuten, sind wir bereit, viele weitere neue Geschichten zu erleben.

Epicentro ist nicht nur ein Film über Kuba, seine Gegenwart und seine Geschichte. Epicentro besteht aus vielen Geschichten, es taucht in den Alltag der Bewohner ein, behandelt Themen wie den Tourismus und wie er von den Einheimischen betrachtet wird, geht auf die Momente nach dem Tod von Fidel Castro ein – und zeigt sie uns durch Archivmaterial. Ein fesselnder Film wie wenige andere. Ein Dokumentarfilm, der – dank einer nie aufdringlichen oder redundanten Off-Stimme – dem Zuschauer das Gefühl gibt, ein Hauptdarsteller und nicht nur ein Beobachter zu sein.

Halbverlassene Straßen bei Nacht werden von der Kamera in einer subjektiven Einstellung durchwandert. Laut einem Reiseführer kann man in Havanna nachts ruhig herumlaufen, die Stadt ist sehr sicher und die Kriminalitätsrate ist gering. Und der Tourist, der diese Orte zum ersten Mal erlebt, ist sofort fasziniert. Gleichzeitig beklagen zwei junge Mädchen, die davon träumen, Fotomodelle zu werden, dass Touristen sie und ihre Lebensweise aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse mit zu viel Herablassung betrachten. Die Präsenz der Vereinigten Staaten ist ständig zu spüren, manchmal sogar lästig.

Gibt es also einen idealen Weg, Kuba zu erleben und kennenzulernen? Hubert Sauper hat in seinem magnetischen Epicentro ein lebendiges, farbenfrohes und unglaublich facettenreiches Porträt einer Welt geschaffen, von der man auch nach vielen Jahren nicht sagen kann, dass man sie wirklich kennt. All diese kleinen Geschichten ergeben ein riesiges Mosaik, das uns mit seinen Farben, mit der Kraft seiner Bilder sofort ins Auge sticht. So wie Schwarz-Weiß-Bilder aus einer vergangenen Epoche, die auf eine riesige weiße Leinwand projiziert werden.

Titel: Epicentro
Regie: Hubert Sauper
Land/Jahr: Österreich, Frankreich, USA / 2020
Laufzeit: 108’
Genre: Dokumentarfilm
Buch: Hubert Sauper
Kamera: Hubert Sauper
Produktion: KGP Filmproduktion GmbH, Little Magnet Films, Wild Bunch

Info: Die Seite von Epicentro auf der Webseite der Viennale; Die Seite von Epicentro auf der Webseite der Austrian Film Commission; Die Seite von Epicentro auf iMDb