Beim Dokumentarfilm Das erste Meer ist wenig Platz für Erwachsene. Alles wird aus der Sicht von Kindern erzählt und erinnert fast an das Kino von François Truffaut oder Abbas Kiarostami.
Ein Traum namens Meer
Wafaa und Raneen. Zwei dreizehnjährige Mädchen und die Möglichkeit – wenn auch nur für eine kurze Zeit – eine neue Realität zu erleben. Ihre Welt ist zweifellos schwierig und sie haben zwei gegensätzliche Arten, das Leben zu verstehen. Sie sind die beiden jungen Protagonistinnen von Das erste Meer, ein einzigartiger Dokumentarfilm von Clara Trischler aus dem Jahr 2013, der bei der Diagonale 2014 uraufgeführt und nach der pandemiebedingten Absage der Diagonale 2020 ins Programm Diagonale 2020 – Die Unvollendete aufgenommen wurde.
Wafaa und Raneen leben in einem kleinen Dorf in Palästina. Mit dem Auto würden sie weniger als eine Stunde brauchen, um das Meer zu erreichen. Doch zwischen ihr Zuhause und dem Meer befindet sich eine große, unüberwindbare Barriere: Die Grenze zu Israel. Für die beiden Mädchen scheint es ein unerfüllbarer Traum zu sein, das Meer zu sehen. Doch während der Dreharbeiten zu Das erste Meer bekamen sie die Möglichkeit, einen Ausflug an den Strand zu machen, der von einer NGO organisiert wurde. Wafaa kann es kaum erwarten, zu entdecken, was hinter den Mauern ihres Hauses liegt. Raneen hingegen beschließt, nicht mitzufahren und ist stolz darauf, in ihrem Land zu leben und mit ihren Freunden alte Unabhängigkeitslieder zu singen.
Zart, verträumt, intim und gut strukturiert. Dieser kleine und wertvolle Dokumentarfilm von Clara Trischler zeigt uns zwei verschiedene Realitäten und zwei verschiedene Arten, den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu erleben. Die beiden jungen Protagonistinnen sind Sprecherinnen für zwei unterschiedliche Denkweisen, die uns auch durch Interviews mit Einheimischen vor Augen geführt werden. Doch trotz allem scheint es bei Das erste Meer nur wenig Platz für Erwachsene zu geben. Alles wird aus der Sicht eines Kindes erzählt und erinnert fast an das Kino von François Truffaut oder von Abbas Kiarostami. Selbst die Dörfer, in denen die Protagonistinnen leben, wirken fast wie Welten auf halbem Weg zwischen extremem Realismus und einem Märchen. Und sie vermitteln uns den Eindruck, dass die Zeit dort unweigerlich stehen geblieben ist.
Ganz im Sinne der Inszenierung hat Clara Trischler Das erste Meer einen kontemplativen und poetischen Charakter gegeben, der seinen Höhepunkt in dem Moment erreicht, als der Bus, in dem Wafaa mit ihrer Familie und den anderen Dorfbewohnern unterwegs ist, endlich um die Ecke biegt und in der Ferne das Meer sieht. Von diesem Moment an erinnern glückliche Kinder, die endlich frei im Wasser spielen, noch mehr an das Kino der Nouvelle Vague, das uns träumen ließ (und immer noch lässt). Und Clara Trischlers Kamera gibt alle Konventionen auf und beginnt, die Realität zu filmen, wie sie ist. Und wie Cesare Zavattini zu theoretisieren pflegte, stellt sie die letzten, wesentlichen Fragen an einige junge Mädchen, die zu Hause geblieben sind, und folgt ihren patriotischen und befreienden Liedern und Schreien von der Spitze eines Hügels.