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JOY

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von Sudabeh Mortezai

Note: 7.5

Joy zeigt uns die Realität, wie sie ist, ohne jede Versüßung, aber gleichzeitig versteht der Film es, geschickt mit den Emotionen des Zuschauers zu spielen, auch indem er uns die vielen Gewaltepisoden, die die Mädchen erleiden müssen, (nicht) zeigt.

Feierliche Schwüre

Kaum jemand weiß, dass auch heute noch in Nigeria viele Mädchen, nachdem sie von selbsternannten Gurus gezwungen wurden, den sogenannten „Juju“-Eid abzulegen, untrennbar mit ihren Ausbeutern verbunden und daher gezwungen sind, eine riesige „Schuld“ in Geld zu bezahlen, die angesichts ihrer finanziellen Lage nur dann beglichen werden kann, wenn diese jungen Frauen anfangen, sich zu prostituieren. Sollte eine von ihnen beschließen, diesen Eid zu brechen, wird sie der Tod oder der Wahnsinn erwarten. Oder zumindest werden sie dazu gebracht, dies zu glauben. Aus diesem Grund verlassen jedes Jahr viele Frauen Nigeria und gehen nach Europa, um ihre Schulden zu begleichen. Eine kaum zu glaubende Realität, die uns die österreichisch-iranische Regisseurin und Dokumentarfilmerin Sudabeh Mortezai zum ersten Mal auf der großen Leinwand in ihrem Film Joy erzählt, der seine Weltpremiere bei den 75. Filmfestspielen von Venedig in der Reihe Giornate degli Autori hatte, wo er mit dem Labelpreis Europa Cinemas und dem Hearst-Filmpreis – Beste weibliche Regisseurin ausgezeichnet wurde. Darüber hinaus wurde Joy in der offiziellen Filmauswahl der Diagonale 2019 gezeigt.

In ihrem zweiten Spielfilm nach Macondo (2014) erzählt Mortezai die Geschichte von Joy, einer alleinerziehenden nigerianischen Mutter, die in Wien als Prostituierte arbeitet und hofft, ihrer kleinen Tochter eine rosige Zukunft ermöglichen zu können. Da die Frau kurz vor der endgültigen Begleichung ihrer Schulden steht, wird ihr die Aufsicht über die junge Precious anvertraut, die gerade ins Geschäft eingestiegen ist und ihr neues Leben noch immer nicht akzeptieren will.

Ohne ihre Vergangenheit als Dokumentarfilmerin zu vergessen, folgt die Regisseurin – getreu den Theorien Zavattinis – der jungen Protagonistin Schritt für Schritt und zeigt uns die Ereignisse ausschließlich aus ihrer Sicht. Und so beherrschen ein ausgiebiger Einsatz der Schulterkamera und intensive Nahaufnahmen von Joy und ihren Kolleginnen die Szene von den ersten Minuten an. Die Inszenierung ist – bewusst und gekonnt – auf das Wesentliche reduziert: Es gibt keinen musikalischen Kommentar, es gibt keine besondere Virtuosität der Regie, es wird keine besondere Aufmerksamkeit auf die Umgebungen gelegt, mit Ausnahme der schmutzigen Straße, wo die Protagonistin für gewöhnlich auf ihre Kunden wartet, oder des Hauses, in dem sie mit den anderen ausgebeuteten Mädchen lebt. Die Stadt Wien selbst wird uns hier so wenig wie möglich gezeigt, da die Außenaufnahmen in anonymen Straßen mit Gebäuden, die so sehr an Gefängnisse erinnern, gedreht sind.

Dieser Film von Sudabeh Mortezai ist Realitätskino auf höchster Ebene. Ein Film, das uns die Wirklichkeit so zeigt, wie sie ist, ohne jede Versüßung, das aber mit den Emotionen des Zuschauers gekonnt zu spielen weiß, auch indem es uns die vielen Gewaltepisoden, die die Mädchen erleiden müssen, (nicht) zeigt. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der die junge Precious von den Männern ihres Ausbeuters vergewaltigt wird: Die Kamera beschließt, uns nicht die Gewaltszene selbst sehen zu lassen, sondern, auf Joys Gesicht fixiert, uns alle spüren zu lassen, was im nächsten Raum geschieht. So wie es uns die hanekische Tradition lehrt.

Diese Momente, die neben großen Ängsten auch ein starkes Gefühl der Klaustrophobie vermitteln, das durch die besondere elliptische Struktur, die die Regisseurin dem ganzen Werk gegeben hat, klugerweise noch verstärkt wird, sind ein Zeichen dafür, dass das Schicksal dieser jungen Frauen unwiderruflich gezeichnet ist und dass sich auch nach Begleichung der Schulden nichts wirklich ändern kann. Nicht einmal dann, wenn man sich entschließt, solche Realitäten anzuprangern, die vor allem wegen des Mangels an Informationen und der daraus resultierenden falschen Überzeugungen zu existieren scheinen, die in ganz Nigeria noch immer so lebendig und verbreitet sind.

Titel: Joy
Regie: Sudabeh Mortezai
Land/Jahr: Österreich / 2018
Laufzeit: 99’
Genre: Drama
Cast: Anwulika Alphonsus, Mariam Sanusi, Angela Ekeleme
Buch: Sudabeh Mortezai
Kamera: Klemens Hufnagl
Produktion: Filmfonds Wien, ORF, Tremens Tonstudio, Oesterreichisches Filminstitut

Info: Die Seite von Joy auf der Webseite vom Filmfestspielen von Venedig – Reihe Giornate degli Autori