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von Ludwig Wüst
Note: 7.5
In Aufbruch ist jedes einzelne Element mit einer starken Symbolik aufgeladen und gleichzeitig gelingt es dem Film, den Zuschauer auf direktem Weg zu erreichen, indem er eine universelle Sprache spricht und sich als eine wahre Apologie für Werte und Freiheit enthüllt.
Ein neues Leben
Eine Figur wie der Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Ludwig Wüst durfte auf den Leinwänden der Berlinale 2018 (mit seinem letzten Werk Aufbruch) nicht fehlen – ein würdiger Vertreter Österreichs. Der Filmemacher, der innerhalb seiner Landesgrenzen bereits seit einigen Jahren bekannt und geschätzt ist und mit Autoren wie Michael Haneke, Ulrich Seidl oder den Brüdern Dardenne verglichen wird, zeichnet sich seit jeher durch seinen extremen, aber auch minimalistischen Stil sowie durch große visuelle und emotionale Wirkung aus. Ein Regisseur, der sich nie davor gefürchtet hat, neue Sprachen Techniken zu wagen und mit ihnen zu experimentieren, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich angesichts der ausgeprägten Autorschaft seiner Werke (von denen viele oft echten Videoinstallationen ähneln) manchmal beinahe unbeliebt macht. Ein wichtiger Name also, was die zeitgenössische österreichische Kinematographie betrifft. Schade ist jedoch, dass ein Name wie Wüst außerhalb der Landesgrenzen praktisch unbekannt ist. Zumindest außerhalb der klassischen Festivals. Dies bedeutet jedoch nicht, dass einem Autor wie ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Im Gegenteil, gerade wegen seines sehr persönlichen Inszenierungsstils kann man ihn als einen der Regisseure betrachten, die man im Auge behalten sollte.
Bereits mit wichtigen Werken im Rücken präsentierte Wüst daher auf der 68. Berlinale – innerhalb der Reihe Forum – seinen elften Spielfilm, Aufbruch, in dem er mit seinem extremen Stil die Geschichte zweier einsamer Gestalten erzählt, die sich begegnen und die es ohne viele Worte schaffen, einen Weg zu finden, um einander zu verstehen und miteinander zu kommunizieren, und dabei entdecken, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als es zunächst den Anschein hat. Es geht um einen Mann (gespielt von Wüst selbst), der gerade – nach einem heftigen Streit mit seiner Frau, wie man einem Telefongespräch entnehmen kann – mit einer kleinen Ape sein Zuhause verlassen hat, und eine Frau (Claudia Martini), die sich gerade von ihrem Partner getrennt hat, und allein und bestürzt auf einer Bank sitzt, mit einer Flasche Schnaps und einem Buch mit russischen Gedichten in der Hand. Durch einen seltsamen Schicksalswillen treffen sich die beiden und werden zu „Reisegefährten“ ohne genaues Ziel. Auf ihrem Weg halten sie zunächst bei einer Schreinerei, dann bei einem alten, verlassenen Haus (das höchstwahrscheinlich einmal der Frau gehörte). Und so, ähnlich wie in Kim Ki-duks Bin-Jip – Leere Häuser (2004), macht sich dieses bizarre Reisepaar gerne – natürlich respektvoll – die besuchten Umgebungen zunutze (der Mann baut ein Kreuz in der Schreinerei, während die Frau ihre Spuren im Haus hinterlässt, indem sie zum Beispiel eine Wand mit ihren Händen bemalt).
Die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert, ebenso die Kamerabewegungen. Worauf sich Wüsts geschickte Regie hauptsächlich stützt, sind die zahlreichen Nahaufnahmen der Hände und Gesichter der Figuren. Es sind die Gesten, langsam aber sicher, die mit einer kontemplativen Haltung zu (fast) absoluten Protagonisten des ersten Teils des Films werden.
Und so sind die beiden mit dem zuvor konstruierten Kreuz, dem Gedichtband, der Flasche Schnaps und ein paar im Gemüsegarten gepflückten Kartoffeln in Händen – endlich bereit für ein neues Leben und auf jeden Fall für eine symbolische Wiedergeburt – dabei, einen Fluss zu durchqueren – eine Art Acheron der Peripherie. Bereit, bei null anzufangen, endlich weit weg von jedem materiellen Reichtum. Aber vielleicht wird das, was auf sie zukommt, etwas völlig Unerwartetes sein.
Bei diesem Film von Wüst wird nichts dem Zufall überlassen. Jedes einzelne Element, wie auch jede einzelne Aufnahme, ist mit einer starken Symbolik aufgeladen, aber gleichzeitig gelingt es dem Film, den Betrachter auf direktem Wege zu erreichen, indem er eine universelle Sprache spricht und sich als eine wahre Apologie für Werte und Freiheit enthüllt, die wiederum dem Rausch und vor allem dem Konsumverhalten des modernen Lebens entgegengesetzt sind. Es handelt sich um ein Werk, das sich durch die Sorgfalt, mit der es geschaffen wurde, und vor allem durch seinen ausgeprägten und einzigartige Autorschaft in einer großen – und vielfältigen Reihe wie Forum, in der seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit für neue Techniken und unterschiedliche Arten der Filmproduktion zentrale Auswahlkriterien eines jedesn Spielfilms sind, hervorhebt.
Titel: Aufbruch
Regie: Ludwig Wüst
Land/Jahr: Österreich / 2018
Laufzeit: 110’
Genre: Drama
Cast: Ludwig Wüst, Claudia Martini, Suse Lichtenberger
Buch: Ludwig Wüst
Kamera: Klemens Koscher
Produktion: Film-pla.net