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HAPPY END

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von Michael Haneke

Note: 8.5

Was wir in Happy End sehen, ist ein echtes Crescendo der Emotionen in vollem hanekischen Stil. Es gibt weder die Guten noch die Bösen, jeder ist Opfer und Henker zugleich. Einschließlich der Jüngsten. Aber was bedeutet es letztendlich, gut und was bedeutet es, schlecht zu sein?

Michael Haneke mit voller Kraft

Fünf Jahre nach seinem letzten Spielfilm Liebe, der mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde und dank dessen Österreich den zweiten Oscar für den Besten Fremdsprachigen Film erhielt (der erste wurde erst 2008 an Stefan Ruzowitzkys Die Fälscher verliehen), hat sich Meister Michael Haneke entschlossen, uns ein weiteres seiner Werke zu schenken, das ebenfalls im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes präsentiert wurde: Happy End, ein Spielfilm, der magnetisch und grausam zugleich ist, der der ganzen Kinematographie des Wiener Filmemachers würdig ist, mit den Protagonisten seiner früheren Werke, wie Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignant.

Wir sind in Calais. Das scheinbare Gleichgewicht einer großbürgerlichen Familie scheint gefährlich zu schwanken: Das von dem älteren Vater gegründete und von seinen Kindern Thomas und Anne weitergeführte Unternehmen muss sich für den schweren Unfall eines Arbeiters verantworten. In der Zwischenzeit wird die zwölfjährige Eve, Thomas‘ Tochter aus erster Ehe, zur Familie stoßen, da ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wird.

Und so kommt dieses jüngste Werk von Haneke, das perfekt mit der Zeit geht, spielt es doch vor dem Hintergrund der Einwanderung und der Wirtschaftskrise, schließlich in Gang. Und Haneke schafft es, uns zu überwältigen, zu entführen und zu verletzen, von den ersten Minuten an, wenn wir auf dem Bildschirm eines Handys – was uns so sehr an Benny’s Video (1992) erinnert – die Absichten der jungen Eve lesen, ihrer seit langer Zeit depressiven Mutter eine starke Dosis Schlaftabletten zu geben. Aber das ist erst der Anfang. Denn in der Tat ist das, was wir in Happy End sehen, trotz eines an sich schon recht beunruhigenden Incipits ein echtes Crescendo der Emotionen in vollem hanekischen Stil. Und obwohl Michael Haneke sich und seiner Art, Gewalt und menschliche Niedertracht jeglicher Form zu inszenieren, treu bleibt, gelingt es ihm, hier ein Drehbuch zu schreiben, das uns stets aufs Neue überrascht. Haneke zeigt uns nicht, was passiert. Das können wir nur erraten , in einigen Szenen nur hören. So war es in Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009), in Funny Games (1997) und in Funny Games U. S. (2007), sowie in dem oben erwähnten Benny’s Video – um nur einige Beispiele zu nennen – und so ist es auch in Happy End: Wir sehen nicht den Moment, in dem das kleine Mädchen seine Mutter vergiftet, aber wir können es anhand dessen, was sie mit ihrem Handy geschrieben hat, erahnen; wir sehen nicht ihren Tod, sondern nur den Moment, in dem ihr altes Haus verkauft wird. Die einzigen blutigen Momente, die uns gezeigt werden – der Arbeitsunfall und die Szene, in der Annes Sohn von einem Mitarbeiter des Unternehmens zusammengeschlagen wird – werden aus der Ferne gefilmt, mit streng fixierter Kamera, gedämpft, aber gleichzeitig stärker als je zuvor.

Und dann ist da noch sie: die große Isabelle Huppert, hier grausamer und rücksichtsloser als je zuvor. Eine Rolle, die sie besonders gut beherrscht, da ihre Körperlichkeit so eisig, fragil, aber auch äußerst faszinierend ist. Haneke glaubte als guter Kenner immer wieder an sie: 2001 mit Die Klavierspielerin und 2012 mit Liebe, wo Huppert die Gelegenheit hatte, neben zwei anderen großen sakralen Monstern der siebten Kunst zu spielen: Jean-Louis Trintignant, auch hier in Happy End ein hervorragender Co-Star, und die verstorbene Emmanuelle Riva. Gemäß dem Motto „Never change a winning team“, werden zwei verstörende Figuren wie Anne und ihr alter Vater zum Rückgrat eines der Werke, auf das Haneke selbst am meisten gesetzt zu haben scheint. Zumindest bis heute.

Innerhalb eines so reichen wie vielfältigen Werkes durfte eine besondere Aufmerksamkeit für den Akt des Sehens an sich nicht fehlen. Von Anfang an sehen wir, wie Handys in der heutigen Welt Zeugen der Realität sind. Es liegt an ihnen, uns in die Geschichte einzuführen. Man spricht vom – typischerweise postmodernen – Bewusstsein des Sehens, eines Zuschauers, der demgegenüber, was vor seinen Augen geschieht, machtlos ist. Und es ist gerade der Zuschauer, der sich allmählich der Unmöglichkeit des Handelns bewusst wird, angesichts einer Menschheit, die kälter, heuchlerischer, rücksichtsloser wird. Es gibt weder Gut noch Böse, jeder ist Opfer und Henker zugleich. Einschließlich der Jüngsten. Aber was bedeutet es letztendlich, gut und was bedeutet es, schlecht zu sein? Ist es tatsächlich so verwerflich, dass die kleine Eve ihrer Mutter Schlaftabletten verabreicht hat, oder war ihr Handeln, wenn wir versuchen, die Fakten aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, nichts weiter als eine Art (sicherlich sehr fragwürdiger) Akt der Liebe? Haneke selbst scheint an einer Stelle die Antwort vorzuschlagen und spielt dabei auf sein früheres Werk Liebe an. Auch mit einem gewissen Grad an Selbstzufriedenheit. So ist das. Andererseits war bei einem Produkt wie Happy End, das letztlich als echte Summe der Kinematographie des Wiener Filmemachers betrachtet werden kann, auch ein spontanes, sowie selbstironisches Moment der Selbstfeier zu erwarten. Und schließlich ist Haneke , nach Jahren ehrbarer Karriere, mittlerweile allen bekannt, so extrem, aber auch so wahr, dass es weh tut. Das sind die Fakten. Entweder man hasst ihn oder man liebt ihn.

Titel: Happy End
Regie: Michael Haneke
Land/Jahr: Frankreich, Österreich / 2017
Laufzeit: 110’
Genre: Drama
Cast: Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassowitz, Fantine Harduin
Buch: Michael Haneke
Kamera: Christian Berger
Produktion: Les Films du Losange

Info: la Seite von Happy End auf der Webseite des Filfestspielen von Cannes