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ICH SEH ICH SEH

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von Veronika Franz und Severin Fiala

Note: 8

Der umstrittene Ich seh ich seh konnte etwas Neues und auf ihre Weise Unerwartetes zum Leben erwecken, indem sie Ästhetik und Erzählung auf höchst raffinierte Weise miteinander verband und in jeder Hinsicht auf die Kanons des deutschen Expressionismus der 1920er Jahre verwies.

Augen ohne Gesicht

71. Filmfestspiele von Venedig, Sommer 2014. In der interessanten Reihe Orizzonti wurde einer der verstörendsten Spielfilme des gesamten Festivals uraufgeführt: Der psychologische Horrorfilm Ich seh ich seh, den Veronika Franz zusammen mit ihrem jungen Neffen Severin Fiala inszeniert hat. Gleichzeitig präsentierte der umstrittene österreichische Filmemacher Ulrich Seidl – der Ehemann von Franz – der Öffentlichkeit und der Presse außerhalb des Wettbewerbs den Dokumentarfilm Im Keller. Ebenfalls ein Film, der in einem reichhaltigen und abwechslungsreichen filmischen Panorama wie dem des Lidos viel über sich hat sprechen lassen. Und so konnte sich Österreich im Rahmen derselben Veranstaltung mit zwei Titeln rühmen, von denen jeder auf seine Weise mehr als würdig ist.

Doch während der Name Seidl zumindest auf dem Festivalgelände schon seit längerem vielen Menschen aufgefallen war, war die Regisseurin und Filmkritikerin Veronika Franz den meisten Zuschauern und Kritikern bisher weitgehend unbekannt. Zumindest außerhalb der Landesgrenzen, natürlich. Unter solchen Voraussetzungen erwies sich der umstrittene Film Ich seh ich seh (später bei der Diagonale 2015 präsentiert – wo er den Großen Diagonale-Preis gewann – und in Italien nur in einer Heimvideoversion veröffentlicht) als eine echte Überraschung. Neben der Tatsache, dass es sich dabei um einen Horrorfilm handelt, der geschickt mit Elementen spielt e, die innerhalb des genannten Filmgenres immer wieder vorkommen, konnte er etwas Neues und auf seine Weise Unerwartetes zum Leben erwecken, indem er Ästhetik und Erzählung auf höchst raffinierte Weise miteinander verband und sich auf ganzer Ebene – mit behutsamem Licht- und Schattenspiel und auch dank eines sorgfältig ausgewählten Schauplatzes – in den Kanon des deutschen Expressionismus der 1920er Jahre einordnete.

Die Ausgangslage der Geschichte könnte nicht klassischer sein: Wir haben eine große, isolierte Villa, die sich am Rande von Wien befindet. Wir haben Zwillinge im Alter von etwa zehn Jahren, die sich sehr miteinander verbunden fühlen und ihre langen Sommernachmittage – zu Hause spielend oder auf Wiesen und Feldern – verbringen. Und schließlich haben wir eine Mutter, die scheinbar auf (fast) ungerechtfertigte Weise streng ist und deren Gesicht nach einem mysteriösen Unfall vollständig mit Verbänden bedeckt ist. Eines der beiden Kinder wird von der Frau völlig ignoriert, was die Jungen dazu bringt, zu bezweifeln, dass es sich bei ihr tatsächlich um die eigene Mutter handelt. Die Dinge sind jedoch keineswegs so, wie sie scheinen.

Wir sind uns einig: Was Veronika Franz zusammen mit dem jungen Severin Fiala in Ich seh ich seh inszenieren wollte, ist nichts völlig Neues. Zumindest wenn man nur das Skript berücksichtigen will. Doch bei genauer Betrachtung des Ganzen ist das, was wir vor unseren Augen haben, das Ergebnis eines klugen Spiels mit Elementen der Gegenwart und der Vergangenheit, mit Figuren, die vom Licht fast „verbrannt“ werden, und mit unglaublich scharfen Umrissen, die, indem sie in dunklen Umgebungen wie einem Wald oder einer Höhle verschwinden, ständig von einer Dimension in eine andere – von der traumhaften in die reale – springen, uns verwirren und von den ersten Minuten an buchstäblich mit uns spielen.

Vor einem bedeutsamen kulturellen Rahmen haben die beiden Regisseure daher – visuell gesehen ausgiebig auf Georges Franju (man kann nicht umhin, mitunter an die wunderbaren Augen ohne Gesicht von 1960 zu denken), auf das (relativ) junge Hotel (2004) von ihre Landsmännin Jessica Hausner oder sogar auf Luis Buñuel (besonders emblematisch ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der wir das blutige Auge der Frau sehen, das plötzlich, in einem Spiegel reflektiert, den Sohn an der Badezimmertür anstarrt) zurückgegriffen. Das Endergebnis ist jedoch etwas völlig Neues, mit einer eigenen, ausgeprägten Identität, das sich – auch dank einer mehr als gelungenen finalen Wende – zu Recht als einer der erfolgreichsten Horror-Spielfilme der letzten Jahre nennen lassen kann, welcher ein starkes emotionales Crescendo mehr als würdigen kann, ohne sich jemals als vorhersehbar oder trivial zu entpuppen. Kurz gesagt, Ulrich Seidl hat wieder einmal alles richtig gemacht mit der Entscheidung, den Film zu produzieren. Aber andererseits, wer außer ihm hätte dies tun können?

Titel: Ich seh Ich seh
Regie: Veronika Franz, Severin Fiala
Land/Jahr: Österreich / 2014
Laufzeit: 99’
Genre: Horrorfilm
Cast: Susanne Wuest, Elias Schwarz, Lukas Schwarz, Hans Escher, Elfriede Schatz, Karl Purker
Buch: Veronika Franz, Severin Fiala
Kamera: Martin Gschlacht
Produktion: Ulrich Seidl Film Produktion GmbH

Info: Die Webseite von Ich seh ich seh